St. Martinskomitee Anrath

Der Martinsbrauch am Niederrhrein


Sankt Martin mit dem Schwerte teilt den warmen Mantel unverweilt ... . Wer kennt nicht jene Verse vom Martin, der um 332 n.Chr. vor den Toren von Amiens seinen Uniformmantel mit einem frierenden Bettler teilte. Martin, der 371 n. Chr. zum Bischof von Tours geweiht wurde, hat wohl nie geahnt, dass ihm sein auch später wohltätiges Wirken eine Verehrung zuteil werden ließ, die heute noch unser niederrheinisches Brauchtum am Martinstag prägt.
Martins Grab in Tours war von jeher eine beliebtes Wallfahrtsziel. Früh verzeichnete man dort Lichterprozessionen, die möglicherweise Vorläufer unserer Martinszüge waren.
Im Mittelalter wurden am Martinstage ausgelassene Feste gefeiert, denen eine Adventsfastenzeit folgte. Neben Erwachsenenfesten gab es am Martinstag auch Belustigungen für die Kinder, die -wie zu Nikolaus- reichlich beschert wurden. Der Martinstag war Zinstag für die Bauern, die ihren Herren Pacht und Abgaben entrichten mussten. Martinstag war auch Winteranfang und Erntedankfest. Wenn es so wollte oder mußte, wechselte am Martinstag das Gesinde seinen Herrn. Am Martinstag endete auch der Viehaustrieb. So weiß man aus Oedt zu berichten, dass nach Ende des Gänseaustriebs der Hirte am Martinstag bei den Familien seinen Obolus für die jährliche Hütetätigkeit einforderte.
Über Frankreich, Belgien und die Niederlande, aber auch über Süddeutschland, gelangte der Brauch des Beschenkens an den Niederrhein. Gleichzeitig kam das Martinisingen auf. Kinder zogen in kleinen Gruppen von Haus zu Haus und erbaten (heischten) Gaben. Je nach Landstrich bestanden diese Gaben aus Brennmaterial für ein Martinsfeuer oder aus Gebäck und Süßigkeiten. Bei diesen Heischegesängen führten die Kinder an Stöcken Lichter mit, die ursprünglich in ausgehöhlten Kürbissen oder Rüben standen, später in Fackeln unterschiedlicher Bauart. Diese Heischegesänge nahmen z.T. überhand, weil dabei luftgefüllte Schweinsblasen, Rinderhörner und andere Materialien als Lärminstrumente verwendet wurden.

Darum wollte man ab Mitte des vorigen Jahrhunderts diese wilden Heischegesänge in geordnetere Bahnen lenken. Das Verspotten der Hausbesitzer, die keine Geschenke reichten (Jizzhals, Jizzhals, Jizzhals etc.), störte besonders die bürgerlichen Kreise in den Städten. So entstand eine Diskussion über Beibehaltung oder Abschaffung der Heischezüge.
Düsseldorf war wohl die erste Stadt am Niederrhein, in der ab 1894 organisierte Fackelzüge durch die Straßen zogen. In Anrath wurde 1897 ein Martinskomitee gegründet. Ein aus Düsseldorf stammender Lehrer rief 1905 den Lobbericher Martinsverein ins Leben. In den Folgejahren ließen in vielen niederrheinischen Orten Bürger und Lehrer Martinsvereine bzw. -komitees entstehen, die für einen geordneten Ablauf der Martinszüge verantwortlich zeichneten.
Heutzutage findet man in den meisten niederrheinischen Gemeinden, Städten und deren Vororten geordnete Martinszüge. Monate vor dem eigentlichen Martinsumzug treffen sich die Mitglieder der Komitees, um den Zug und das Geschehen drumherum vorzubereiten. In Schulen, Kindergärten und Familien werden vor dem Festtag am 11. November Fackeln unterschiedlicher Art gebastelt und die für den Ort gebräuchlichen Martinslieder eingeübt. Fackeln von Rüben oder Kürbissen werden nur noch selten gezeigt, da ihre Haltbarkeit infolge Austrocknens und Reißens sehr begrenzt ist.
Für die Kosten des Zuges erbitten Sammler des Komitees bei den Familien Spenden; gleichzeitig verteilen sie Tütenmarken an Kinder und alte Leute.

Am Martinsabend sammeln sich Schulklassen, Gruppen oder Familien an einem zentralen Ort, um in Begleitung von Eltern, Lehrern und Vereinen (z.B. Feuerwehr, DRK oder THW) den Martinszug durch die Straßen des Ortes zu beginnen. Voran reitet St. Martin als Ritter -seltener als Bischof- und häufig begleitet durch berittene Herolde. Musikkapellen regen Kinder und Erwachsene zum Singen der Martinslieder an. Oft weisen große Fackeln -wie in Anrath oder Schiefbahn- auf die vorbeiziehende Gruppe hin.
Die an der Zugstrecke liegenden Häuser und Geschäfte sind illuminiert; in Schiefbahn wird die Kirche durch Beleuchtung zur riesigen Fackel. Mancherorts zieht eine Gänseliesel mit Gänsen im Zug mit. Nach Ende des Zuges findet in vielen Orten ein Martinsfeuer statt. In Anrath zieht ein großartiges Feuerwerk alljährlich Tausende von Zuschauern an. Oft geht dem Feuer oder Feuerwerk das Spielen einer Bettlerszene voran. Anschließend werden den Kindern an zentralen Orten Martinstüten übergeben, die mit Obst, Süßigkeiten und einem Weckmann reichlich gefüllt sind. In einigen Orten -wie in Anrath- bringt der St. Martin auch den älteren Bürgern eine Gabe.
Einige Komitees nehmen die mitgeführten Fackeln während des Zuges in Augenschein und prämieren sie. Hier und da laden die Martinsvereine zu einem Martinsball oder zum Gänseessen ein. Vielfach werden in den Familien Püfferkes oder Müützkes gebacken, die im Freundeskreis verzehrt werden.
Die Kinder brechen in vielen niederrheinischen Orten nach dem Martinszug zum Heischegesang auf, bei dem sie in ihrer Nachbarschaft mit dem Lied "Hier wohnt ein reicher Mann, der uns was geben kann..." um Süßigkeiten bitten. Manchmal ertönt auch heute noch bei Ablehnung des Ersuchens der Spottvers "Jizzhals, Jizzhals, Jizzhals".
Seit jeher gilt der Dülkener Martinszug als eine Besonderheit. Als 1873 der damalige Bürgermeister aus dem Krieg 1870/71 heimkehrte, bereitete man ihm einen großen Lichterzug. Dieser Lichterzug wird seither jährlich am Martinstag wiederholt. Ab 16 Uhr versammeln sich Jung und Alt, um in geordneter Unordnung durch die Straßen zu ziehen, wobei das Lied "Sääk, Jong, halt mech dat Peärd ens aan .." neben anderen Martinsliedern gesungen wird. Vor dem Zug wird eine fackelartige Nachbildung der Narrenmühle getragen, die zum Ende des Umzuges verbrannt wird. Eine offizielle Bescherung der Kinder gibt es nicht; früher jedoch wurden um die Weihnachtszeit die Kinder bedürftiger Familien mit warmem Unterzeug beschenkt.

Verschiedentlich findet man heute Bestrebungen, einen Teil des vom Komitee gesammelten Erlöses für wohltätige Zwecke zu verwenden. Dem stehen jedoch meist die Bestimmungen der Satzung oder -berechtigterweise- die Entscheidungen des Martinskomitees entgegen.
Karlheinz Spelter

Literaturhinweis:

  • Sybill Gräfin Schönfeldt: Das große Ravensburger Buch der Feste und Bräuche
  • Dr. Karl Meisen: St. Martin im volkstümlichen Glauben und Brauch in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde, 19. Jg.
  • Volkskunde: Das Martinsbrauchtum im Rheinland, 1969
  • Dülkener Brauchtum am St.-Martinstage in: Heimatbuch des Grenzkreises Kempen-Krefeld, 1957